Das „akustische Gedächtnis“
Dieses Projekt wandte sich der Grundlagenforschung zu und lotete aus, inwieweit das Aufgreifen der lautlichen Dimension der Geschichte Potentiale der Geschichtsvermittlung erschließen kann. Die neuen elektronischen Medien bringen es mit sich, dass Geschichte immer stärker auch in ihrer akustischen Gestalt übermittelt wird und als Angebot erscheint. Darauf muss sich der Geschichtsunterricht einstellen.
Es wurde von der These ausgegangen, dass das menschliche Gedächtnis von akustischem Material in ähnlich starker Weise wie von bildlichem geprägt ist. Während Bedeutung, Wirkung und Entstehung von Erinnerungs-Ikonen und mithin das „Bild-Gedächtnis“ von Kollektiven relativ gut erforscht sind, wurde dem kollektiven akustischen Gedächtnis wenig Aufmerksamkeit zuteil. In dieses fließen in ähnlich einprägsamer Weise Stimmen, Geräusche, Töne und Klänge ein. Daran schloss die Frage an: Welche sprachlichen Töne verbinden wir mit bestimmten geschichtlichen Ereignissen? Im Gegensatz zu Bildern werden diese – soweit es nicht um Musik geht – primär von der jeweiligen Sprachgemeinschaft und nicht universell rezipiert. Man konnte davon ausgehen, dass das akustische Gedächtnis in starkem Maße ein nationales Gedächtnis ist. Dies stellt für jeden Versuch, historisch-politische Bildung zu „europäisieren“ ein theoretisches und ein praktisches Problem dar. In dem Projekt wurde neben einer Bestandsaufnahme die genannte Ausgangsthese überprüft. Auf etlichen Denk- und Diskussionsforen wurde über die Existenz, die Beschaffenheit und die Homogenität eines akustischen Gedächtnisses reflektiert. Es gibt Sammlungen wichtiger politischer Tondokumente, die sich aber in der Regel als „nationale Ton-Museen“ verstehen. In Osteuropa konnte aufgrund der sowjetischen Prägung eine Sonderentwicklung mit starken transnationalen akustischen Relikten vermutet werden. Eine komparatistische Forschung mit internationalem Anspruch hat sich diesem Phänomen noch nicht zugewandt. Sie wurde in dem Vorhaben erstmals in Angriff genommen. (s.u. „Pilotprojekt“) Die aus dem Projekt ableitbaren Folgerungen sind für den Medieneinsatz in einem Unterricht mit europäischem Ansatz hochrelevant.
Der Projektbearbeiter hat auf der Jahrestagung der International Society of History Didactics erstmalig eine Studie zur akustischen Dimension des Schulbuchs vorgestellt (ISHD Yearbook 2011) und diese auf weiteren internationalen Tagungen in Prag und Saratov zur Diskussion gestellt. Die Beantwortung der Frage, wie das stumme Medium Schulbuch Akustisches tradiert, inwieweit es versucht, die Absenz des Lautlichen zu kompensieren, inwieweit es durch Aufgreifen akustischer Ereignisse zur Ausformung und Perpetuierung eines akustischen Gedächtnisses beiträgt, steht erst am Anfang. Sondiert wurde, wie mit Hilfe der Digital Humanities sowie linguistischen Methoden die Durchdringung des Schulbuchs von Tonimaginationen untersucht werden kann.
Das Projekt erwies sich als sehr befruchtend für andere Projekte der Abteilung, in die akustische Komponenten eingeschrieben wurden. Speziell war dies bei den anwendungsbezogenen Teilen des Oberschlesien- und des Pruzzenland-Projektes der Fall. Zentral wurde das akustische Moment in dem November 2016 gestarteten Vorhaben "Hi-Story Lektionen im inklusiven Unterricht. Erweiterung des Webportals um akustische Animationen". Auf der XV. deutsch-tschechischen Schulbuchkonferenz im Jahr 2016 wurden Radiosendungen zu „Flucht und Vertreibung“ als unentdeckte Ressource für die Geschichtsvermittlung identifiziert. Die Diskussion bestärkte die Erwartung, dass es im Bereich der akustischen Medien noch ein großes Potential an Quellen gibt, anhand derer man Themen anschaulich und spannend unterrichten kann. Ihr Einsatz erfordert allerdings noch einen hohen Rechercheaufwand und zusätzliche didaktische Fähigkeiten auf Seiten der Lehrpersonen. Der Lohn wäre ein hoher medialer Kompetenzzuwachs bei den Lernenden. Dieser wäre dringend geboten, denn im Gegensatz zur Aneignung der Bilderwelt steckt ein kritisch-reflexiver Umgang mit akustischen Quellen noch in den Kinderschuhen. Es gibt keine Didaktik des akustischen Mediums. Die Geschichtsdidaktik – dies auch eine Erkenntnis des Projekts – teilt mit der Geschichtsschreibung die Vernachlässigung des Akustischen.
Aus dem Projekt heraus wurde die Entwicklung von „Akustik-Clips“ empfohlen, die in einer Länge von ca. 5 Minuten als Einstieg in historische Epochen dienen können. Hierbei wäre auch an Kooperationen mit Verlagen zu denken – evtl. im Zusammenhang mit einer Ausgründung des Instituts.
Das Projekt endete mit einem Grundsatzreferat, das der Bearbeiter zu einem Workshop des EU-Projektes „Sounds of Changes“ am 12. Mai 2018 in Witten beisteuerte.
Deutsch-russisches Pilotprojekt
In einem deutsch-russischen Pilotprojekt wurden im Jahr 2008 Bestandsaufnahmen zusammengetragen und erste Erkenntnisse gewonnen. Ein gemeinsame mit der Akademie des Staatsdienstes Wolgograd (VAGS) veranstaltete Konferenz in Wolgograd wandte sich dem Thema „Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg“ zu. Dabei wurde der Versuch unternommen, die Sonosphäre des Zweiten Weltkrieges so zu bearbeiten, dass sie für den Unterricht zugänglich wird. Studenten der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe fertigten zu diesem Zweck Akustik-(Video)-Clips an.
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Ergebnisse
Vortrag
- Maier, R.: „Das akustische Gedächtnis – eine Barriere auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsunterricht?“, LWL-Landesmuseum Zeche Nachtigall, Witten, 12.5.2018.
Veröffentlichungen
- Just, A.L.: "Ohren auf!" Historische Radiosendungen zu ‚Flucht und Vertreibung‘ als neue Dokumente der Zeitgeschichte und Ressourcen für die Geschichtsvermittlung, in: Maier, R. (Hrsg.): Migration als Thema des Unterrichts in Deutschland, Tschechien und Polen, 2018, Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. 307 S. (Eckert. Dossiers 20 (2018)) [https://repository.gei.de/handle/11428/295].
- Maier, Robert (2016): Akustisches Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein in: Geschichte für heute, Heft 2/2016, S. 5-15.
- Maier, Robert (2015): Akustisches Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein. In: Zdeněk Beneš und Robert Maier (Hg.): Geschichtsunterricht, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur zwischen Massenmedien, Schulbuch und Unterrichtsmaterialen, Prag. [S. 123-137]
- Maier, Robert (2012): Lautlose Geschichte? Das Geschichtsbuch und die akustische Dimension. In: T. A. Bogoljubova und N. I. Devjatajkina (Hg.): Kul'turnaja pamjat' i memorial'nye kommunikacii v sovremennych učebnikach i učebnoj literature. Opyt Rossii i Zapadnoj Evropy; sbornik dokladov i materialov meždunarodnoj konferencii. Meždunarodnaja konferencija. Saratow, Russland: Nauka, S. 81–89.
- Maier, Robert (2012): Bezzvučnaja istorija? Škol'nye učebniki istorii i akustičeskoe izmerenie. In: Prepodovanie istorii i obščestvovanija v škole 12 (6), S. 65–69.
- Maier, Robert; Assmann, Aleida (Hg.) (2011): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg. Göttingen: V&R unipress (Eckert. Die Schriftenreihe, 126). 233 S.
- Sidikov, Bahodir (2011): Erhörte Zeit: Akustische Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg in der russisch-sowjetischen Dichtung. In: Robert Maier und Aleida Assmann (Hg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg. Göttingen: V&R unipress (Eckert. Die Schriftenreihe, 126), S. 75–97.
- Maier, Robert (2011): History Textbooks and the Acoustic Dimension. A New Field for Textbook Analysis? In: Elisabeth Erdmann, Susanne Popp und Jutta Schumann (Hg.): Analyzing textbooks: methodological issues. Schulbuchanalyse: Fragen zur Methodologie - L'analyse des manuels: questions méthodologiques. International Society for History Didactics. Schwalbach am Taunus: Wochenschau-Verl. (Yearbook / International Society for the Didactics of History, 2011), S. 193–202.
- Maier, Robert; Genadij G. Slyškin (Hg.) (2009): Pamjat' o Vtoroj mirovoj vojne v sovremennych kommunikativnych technologijach [Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in modernen Kommunikationstechnologien]. Konferenzband zur Konferenz 'Schlacht um Stalingrad: Rückblick nach 65 Jahren'. Georg-Eckert-Institut. Wolgograd: Paradigma. 100 S.
Empirische Untersuchung
- Befragung zum „akustischen Gedächtnis“ (im Wesentlichen durchgeführt von Nils Eckert)
Akustik-Clips
- „Switching channels“ von Jonas Grawert
- „Was bleibt“ von Lukas Fütterer