Konkurrenz und Konvergenz: Europabilder in deutschen und französischen Schulbüchern von 1900 bis zur Gegenwart
Am 1. März 2008 begann das von der DFG und der Agence Nationale de la Recherche für den Zeitraum von drei Jahren finanzierte deutsch-französische Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Simone Lässig, Prof. Eckhardt Fuchs (GEI) und Prof. Christian Amalvi (Université Paul-Valéry/Montpellier III).
Gegenstand
Das Projekt fragte allgemein nach Repräsentationen Europas in Schulbüchern des 20. Jahrhunderts und speziell nach den thematischen Bezügen, in denen der Europabegriff im Horizont von historischen und aktuellen Schulbuchdarstellungen verhandelt worden ist. Dazu wurden Texte, Karten und Bilder aus französischen und deutschen Geschichts- und Geographiebüchern der vergangenen einhundert Jahre unter der Fragestellung untersucht, in welcher Form und mit welchen Zielsetzungen spezifische Konstrukte und Deutungen von Europa, Europäizität und „dem Europäer“ in den jeweiligen nationalen Kontexten präsentiert wurden. Als Fallbeispiele wurden mit Deutschland und Frankreich zwei Nachbarstaaten gewählt, die sich lange Zeit als „Erbfeinde“ gegenüberstanden, jedoch später als Motor des europäischen Einigungsprozesses agierten und inzwischen sogar ein gemeinsames Geschichtsbuch erarbeitet haben.
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Ziele
Das Projekt zielte auf die Identifizierung, Inventarisierung und vergleichende Analyse von Europabildern, also auf eine historisch-systematische Erfassung all der Ereignisse, Vorstellungen, Wertzuschreibungen und Erwartungen, die in Frankreich und Deutschland mit dem Konzept Europa assoziiert worden sind. Dafür wurde auf der Basis der Schulbuchanalysen eine für die Forschung verschiedener Disziplinen nutzbare Quellensammlung generiert. Dokumente, Abbildungen und Karten, die für die Fragestellungen dieses Projektes zentral sind, wurden eingeleitet, kommentiert und in die jeweils andere Sprache bzw. ins Englische übersetzt.
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Vorgehensweise
Bisherige Forschungen hatten darauf hingewiesen, dass die Kategorie Nation in den Lehrbüchern beider Länder zumindest bis 1945 zentral war und dass die Abgrenzung vom Nachbarn erheblich zum Prozess der Selbstfindung als französische vs. deutsche Staatsbürger beigetragen hat. Das Projekt untersuchte nun, inwieweit diese nationalen Deutungen auch in der Auseinandersetzung mit und um „Europa“ entwickelt wurden. Da der Rekurs auf signifikante europäische Werte zugleich Rückschlüsse auf die Selbstdarstellung der eigenen Nation zulässt, stellte sich die Frage, inwieweit „das Europäische“ aus der bilateralen Beziehungsgeschichte zum Nachbarland erklärbar ist, inwieweit Europa zur Legitimierung der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung „beschworen“ wird und inwieweit Europa als Werte-, Religions- und Erinnerungsgemeinschaft, soziale Praxis, Handlungs- und Wahrnehmungsraum, geographische Entität, sozialstaatlicher und sprachlicher Raum oder als politischer Code beschrieben wird.
Die Daten wurden durch die Analyse von Geographie- und Geschichtsbüchern für die schulische Oberstufe (Gymnasium, lycée) gewonnen. Um neben synchronen auch diachrone Vergleiche anstellen zu können, wurde bewusst ein breiter Untersuchungszeitraum gewählt. In sieben zeitlichen Querschnitten, die sich an zentralen Wendepunkten der Geschichte des 20. Jahrhunderts orientieren, wurde der Wandel von Europabildern rekonstruiert, indem die erhobenen Europabilder auf grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse, Annäherungen, Konvergenzen oder Konflikte befragt, historisch-prozessual untersucht und systematisch verglichen wurden. Die verschiedenen theoretischen Konzepte, die der Analyse zugrunde lagen, wurden insofern in ein innovatives und originelles Forschungsdesign übersetzt, als das Medium Schulbuch von der bisherigen Forschung noch kaum als Quelle zur Rekonstruktion von Identitätsbildungsprozessen in transnationalen Räumen genutzt worden war. Das Projekt ging zugleich über den klassischen Schulbuchvergleich hinaus, indem es auch Methoden der historischen Bildanalyse nutzte.
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Ergebnisse
Welche Europadarstellungen schlagen sich im Schulbuch zu welcher Zeit nieder? Welche ähnlichen oder unterschiedlichen Formen der Beweisführung, der Darstellung und der Plausibilisierung der Europabezüge werden von den französischen und deutschen Schulbuchautoren und warum verwendet? Diesen Fragen ging das deutsch-französische Team beispielsweise während der Abschlusskonferenz in der Niedersächsischen Landesvertretung in Brüssel, die am 2. März 2011 stattfand, nach. Die Projektbearbeiter*innen stellten Ergebnisse ihrer Länderstudien zu Frankreich und Deutschland vor. Sie stimmten in ihren Schlussfolgerungen darin überein, dass Europa eine jahrhundertelange Selbst- und Fremdzuschreibung ist. Suchte man im Schulbuch nach Repräsentationen Europas, so sucht man gleichzeitig nach regionalen, sozialen und epochalen Grenzen dieser Konstruktion.
In Bezug auf den deutsch-französischen Vergleich konnte festgestellt werden, dass nationale Bezüge in deutschen Schulbüchern nach 1945 mit europäischen überschrieben wurden, denn die glaubwürdige Legitimation des neuen demokratischen Deutschland konnte nur im europäischen Kontext erfolgen. Diese neue Konstruktion eines Allemagne européenne konkurriert zu dieser Zeit mit der Europe française, die sich im französischen Schulbuch bereits in der Vorkriegszeit manifestiert hatte. Die Universalisierung der französischen Werte wird von den Schulbuchautoren seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommen. Die Europakonstruktionen in historischen sowie aktuellen Geschichtsbüchern waren sowohl in Frankreich als auch in Deutschland im Wesentlichen durch das christliche und das imperiale bzw. koloniale Erbe bestimmt.
Präsentationen von Projektergebnissen
- im Rahmen des ersten Arbeitstreffens der von der ANR und der DFG geförderten Projekte, Arc-et-Senans, 12.-15. Mai 2009
- im Rahmen des Kolloquiums "Manuels en Méditerranée": "L'Europe et la Méditerranée dans les manuels d'histoire français et allemands", Université Paul-Valéry/Montpellier III, Montpellier, 12.-14. November 2009
- im Rahmen der Konferenz « Les représentations de l’Européen dans les manuels français et allemands : Les Européens dans le monde du XIXème siècle », Maison des Sciences de l’Homme, Montpellier, 10. Juni 2010
- im Rahmen der Konferenz „Der Aufbau des Geschichtsraums Europa. Europäische Einigung im Schulbuch“, Maison de l’Europe, Montpellier, 13. Oktober 2010
- im Rahmen der Konferenz „Jeux de miroir. Europa im Spiegel von Bildungsmedien“, Niedersächsische Landesvertretung, Brüssel, 2. März 2011
Veröffentlichungen
- Nouvel, Maguelone, L’Europe en images : les représentations de l’Union Européenne dans les manuels d’histoire d'aujourd'hui, in: Bourgeois, G.; Hyech, H. (Hg.), Signes, couleurs et images de l'Europe. Actes du colloque de Poitiers, janvier 2009, Rennes 2011, S. 239-256.
- Website "Europabilder/Images de l'Europe - eine Sammlung von Schulbuchquellen aus Deutschland und Frankreich". Laufzeit: 2011-2024.
- Anklam, Ewa; Nouvel-Kirschleger, Maguelone, Un exemple de recherche binationale : « Images de l'Europe et de la Méditerranée dans les manuels scolaires français et allemands », in: Boutan, Pierre u.a. (Coord.), La Méditerranée des Méditerranéens à travers leurs manuels scolaires (Manuels scolaire et sociétés. Collection dirigée par Michèle Verdelhan-Bourgade), Paris 2011, S. 45-70.
- Sammler, Steffen, Jeux de miroir. Europa im Spiegel von Bildungsmedien, in: Eckert. Das Bulletin 9 (2011), S. 24-25.
- Anklam, Ewa; Grindel, Susanne, Europa im Bild – Bilder von Europa: Europarepräsentationen in deutschen, französischen und polnischen Geschichtsschulbüchern in historischer Perspektive, in: Carsten Heinze und Eva Matthes (Hg.), Das Bild im Schulbuch (Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung), Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010, S. 93-108.
- Lässig, Simone; Fuchs, Eckhardt, Europa im Schulbuch, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 1 (2009), S. 60-66.