Streitgeschichte im Unterricht
Welche Geschichte ist heute für uns relevant und welchen Sinn sollen wir ihr zuschreiben? Welche Deutungen werden als kulturell selbstverständlich akzeptiert, welche stoßen auf Unverständnis und welche werden kontrovers diskutiert? Diesen Fragen geht das Projekt nach, indem es analysiert wie Streitgeschichte in schulischen Bildungsmedien und im Geschichtsunterricht verhandelt wird.
Ausgangspunkt ist dabei ein explizit weit gefasster Begriff von Bildungsmedien. Neben analogen und digitalen Schulbüchern werden auch serious games und Memes in die Untersuchung einbezogen, sobald sie im Geschichtsunterricht eingesetzt werden.
Konzeptionell arbeitet das Projekt mit zwei Schlüsselbegriffen. Mit Hilfe des medienwissenschaftlichen Konzepts der Aneignung wird analysiert, wie Medien im Rekurs auf ihre je spezifische mediale Angebotsstruktur historische Inhalte formatieren, aber auch erforscht, wie sich Lehrende und Lernende zu medialen Inhalten positionieren. Im Anschluss an das in der Erinnerungsforschung diskutierte Konzept der agonistischen Erinnerung wird zudem die Frage aufgeworfen, wie mediale Angebote, Nutzungsszenarien und erinnerungskulturelle Konstellationen beschaffen sein müssen, um durch produktive Irritationen Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses in Gang zu setzen.
Gesellschaftliche Relevanz
Die Gesellschaften der Gegenwart sind im Zuge von Globalisierung und Migration vielfältiger geworden. Kollektiv verbindliche Vorgaben haben es im Zeitalter der Individualisierung schwer, fraglos anerkannt zu werden. Schnell wechselnden und unübersichtlich gewordenen Gegenwarten, die unseren Blick auf die Vergangenheit formen, lassen sich kaum noch auf den einen konsensfähigen Begriff bringen. Geschichte findet nicht mehr nur im Museum, im bildungsbürgerlichen Feuilleton, im Schulbuch oder auf dem Historiker-Tag statt. Überall auf der Welt haben sich die medialen Kanäle, auf denen über Geschichte nachgedacht und gestritten wird, vervielfältigt. Überall haben die kulturellen Deutungseliten Konkurrenz bekommen. Diese Konstellation stellt den Geschichtsunterricht vor neue Herausforderungen.
Empirischer Fokus
Das Projekt untersucht in systematisch vergleichender Perspektive, wie Lernende und Lehrende mit dieser Herausforderung umgehen.
- Thematisch konzentriert es sich auf den Zweiten Weltkrieg, den Vietnamkrieg, den Sozialismus und die Umbruchsjahren in den 1990er Jahren.
- Methodisch betreibt es Diskursanalyse, führt Interviews mit Lehrenden und Lernenden, und rekonstruiert im Rekurs auf qualitative Methoden Praktiken der Aneignung von ausgewählten Bildungsmedien sowohl im Geschichtsunterricht als auch in Laborsituationen u.a. im Basement.
- Geographisch analysiert es ost- und westeuropäische Gesellschaften.
Publikationen
- Christophe, B. (angenommen): Mapping the Teaching of Transition: Germany. In: A. Formozov, L. Sichtermann, eds.: Teaching the History of Transition: A Handbook for History and Civic Education, Berlin: Austausch, 14-20.
- Christophe, B. (angenommen) (with Veronika Ludwig): Germany – Victims and Perpetrators in the Trials against the so-called Wall-Shooters: How Can a Constitutional State Judge Past Injustices. In: A. Formozov, L. Sichtermann, eds.: Teaching the History of Transition: A Handbook for History and Civic Education, Berlin: Austausch, 154-165.
- Christophe, B. (angenommen): Teaching Transition: Reflections on Challenges, Strategies and Conceptual Approaches. In: In: A. Formozov, L. Sichermann, eds.: Teaching the History of Transition: A Handbook for History and Civic Education, Berlin: Austausch, 234-249.
- Christophe, B. (2022): Agonistic memory as a relational concept: Remembering socialism in Lithuania. In: Memory Studies,First Published: August 2, 2022, Open Access: https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/17506980221114083?casa_token=abY0-JQrpTwAAAAA:JLMiSelSxEaxaHozofs3ac-mGcTNsRB6nMPnZZCIxJ5hG5T2Ju5QRhbYdxs9Bsdf3mg2LztVMck9mw
- Christophe, B. (2022): Vertrauen und Misstrauen im Geschichtsunterricht: Empirische Beobachtungen zu einer prekären Balance. In: E. Fuch, M. Otto, eds.: In Education We trust? Vertrauen in Bildung und Bildungsmedien, Göttingen V&R unipress, 163-180.
- Christophe, B. (2022) (with H. Liebau): Postkolonialismus. In: M. Sabrow, A. Saupe, eds.: Handbuch Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein-Verlag, 357-366.
- Christophe, B. (2021): Victims or Perpetrators or Both? How do History Textbooks and History Teachers in Post-Soviet Lithuania Remember the Post-War Partisans? In: R. Hansen, A. Saupe, A. Wirsching, D. Yang, eds.: Historical Authenticity and Victimhood in Twentieth-Century History and Commemorative Culture, Toronto: Toronto University Press.
- Kohl, C., Christophe, B., Liebau, H., Saupe, A., eds., 2021: Politics of Authenticity and Populist Discourses. Brazil, India and Ukraine, (London: Palgrave Macmillan)
- Christophe, B. Kohl, C., Liebau, H. Saupe, A. (2021): Claims to Authenticity in Populist Discourses. In: C. Kohl/B. Christophe/H. Liebau/A. Saupe, eds. Politics of Authenticity and Populist Discourses. Media and Education in Brazil, India and Ukraine, London: Palgrave Macmillan, 3-30.
- Christophe, B. (2021): Educational Media and Populism. In: Kohl, C., Christophe, B., Liebau, H., Saupe, A., eds., 2021: Politics of Authenticity and Populist Discourses. Brazil, India and Ukraine, (London: Palgrave Macmillan), 163-173.
- Christophe, B. (2021): Remembering the Second World War In Post-Soviet Educational Media. In: . In: Journal of Educational Media, Memory, and Society 13:1, 1-12.
- Christophe, B. (2021): De-Orientalizing the Western Gaze on Eastern Europe. The First Soviet Occupation in Lithuanian History Textbooks. In: Journal of Educational Media, Memory, and Society 13:1, 136-162.
- Christophe, B. (2021) (with Nadine Ritzer): Erinnerung und Geschichtsunterricht in der Kontingenzgesellschaft: Was war der Vietnamkrieg? In: Zeitschrift für die Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 12:2, 160-180.